«Menschen sind früher bereit, sich Hilfe zu holen»

    Die Psychiatrischen Dienste Aargau AG (PDAG) gewährleisten die psychiatrische Behandlung und Betreuung für die Kantonsbevölkerung. Massgeschneiderte stationäre und ambulante Angebote bestimmen die Behandlungen, die individuell zu Betroffenen, ihrer Krankheit und Lebenssituation passen. Prof. Dr. med. Marc Walter, Klinikleiter und Chefarzt, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, gibt hier einen Überblick über die PDAG. Zudem spricht er über neue Wege, und innovative Behandlungsansätze und Technologie, aber auch über die heutige Leistungsgesellschaft und sein Spezialthema den Narzissmus.

    (Bilder: zVg) Prof. Dr. med. Marc Walter, Klinikleiter und Chefarzt, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie: «Ich kann mir persönlich keinen anderen Beruf vorstellen.»

    Wie steht es um die psychische Gesundheit von Herr und Frau Schweizer und hatte Corona einen Einfluss darauf?
    Prof. Dr. med. Marc Walter: Man kann sicherlich feststellen, dass durch die Corona-Krise vor allem leichtere psychische Probleme, wie Stress, Ängste oder Depression zugenommen haben. Vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben Auswirkungen wie beispielsweise die fehlenden sozialen Kontakte über mehrere Jahre dazu geführt, dass es vermehrt zu psychischen Problemen gekommen ist. Darüber hinaus hat sich auch die Wahrnehmung über psychische Störungen insgesamt geändert. Die psychische Gesundheit steht nicht erst seit der Corona-Pandemie mehr im Blickpunkt und Menschen sind häufiger und früher bereit, sich Hilfe zu holen. Dies führt dazu, dass wir eine höhere Inanspruchnahme vor allem der ambulanten und teilstationären Angebote sehen.

    Was zeichnet die Psychiatrischen Dienste Aargau PDAG (im Vergleich zu anderen Kantonen) besonders aus?
    Ein Herausstellungsmerkmal ist sicherlich, dass wir in den PDAG-Behandlungen für beinahe jedes Krankheitsbild und über alle Altersgruppen hinweg anbieten können. Dazu kommt, dass wir auch bereit sind, neue Wege zu gehen und innovative Behandlungsansätze und Technologien anzuwenden. Im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie kann zum Beispiel das Medikament Esketamin zur Behandlung therapieresistenter Depression genannt werden, mit dem wir schon sehr gute Erfahrungen gemacht haben. Aber auch in anderen Bereichen, wie der Telemedizin, nehmen wir inzwischen eine Vorreiterrolle in der Schweiz ein.

    Wo hat die Psychiatrie in den letzten Jahren besondere Fortschritte verzeichnet?
    Neben der bereits angesprochenen Esketamin-Behandlung hat es vor allem bei alternativen Therapiestrategien mit Halluzinogenen, wie LSD oder Psilocybin, erste interessante klinische Studien gegeben, die möglicherweise zukünftig in der Behandlung eingesetzt werden können. Auch in der Psychotherapie hat es viele Fortschritte gegeben. Durch die Entwicklung evidenzbasierter Verfahren rückt man immer mehr von einer Psychotherapie für alle ab und arbeitet störungsspezifisch mit Patientinnen und Patienten, die zum Beispiel unter Traumafolge-, Borderline- oder Angststörungen leiden. An der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie gibt es seit letztem Jahr ein eigenes Zentrum für Psychotherapie und Psychosomatik.

    Wie stark beeinflussen die sozialen Medien unsere Psyche?
    Ich bin zwar kein Experte in diesem Bereich, aber natürlich wirken sich Social Media auch auf unsere Psyche aus. Einerseits bergen sie ein Suchtrisiko, also dass man in gewisser Weise eine Internet- oder Onlineabhängigkeit entwickelt. Diese werden zu den sogenannten Verhaltenssüchten gezählt. Hier sehen wir eine Verschiebung in der Häufigkeit von Suchterkrankungen, weg von der Drogenabhängigkeit hin zu den Verhaltenssüchten. Dieser Trend wird in den nächsten Jahren vermutlich weiter anhalten. Zum anderen finden über Social Media ständig soziale Vergleiche statt, die sich vor allem bei Menschen, die vulnerabel sind oder über ein geringes Selbstwertgefühl verfügen, negativ auf das Selbstwertgefühl und die psychische Gesundheit auswirken können. Dazu kommt weiterhin, dass Informationen in den sozialen Medien im Gegensatz zu klassischen Medien nicht mehr so einfach auf ihre Richtigkeit überprüft werden können, was Ängste schürt, weil die Unsicherheit wächst. Das sieht man vor allem bei den Themen wie Pandemie und Krieg.

    Das Hauptgebäude der PDAG ist wunderschön gelegen auf dem Areal Königsfelden an der Zürcherstrasse in Windisch. Inmitten eines naturnah gestalteten Parks hat es Jahrhunderte überdauert und vermittelt ein starkes Gefühl von Sicherheit und Kontinuität.

    Wie bringt man in der heutigen Leistungsgesellschaft Körper, Geist und Psyche am besten in die Balance. Haben Sie Tipps?
    Einfach gesagt durch Psychohygiene. Gehen Sie einen Schritt zurück, machen Sie Dinge, die Ihnen guttun (z.B. Sport oder andere Freizeitaktivitäten), pflegen Sie Ihre Freundschaften, und schaffen Sie sich «Inseln im Alltag», abseits vom oft stressigen Berufsleben. Findet man diese Balance langfristig nicht, steigt das Risiko für ein Burn-Out und eine Depression. Die Arbeit wird häufig wie ein Zustand in einem Hamsterrad erlebt – je schneller man läuft, umso schneller dreht sich das Rad, aber man kommt doch nicht weiter. Es wäre eben der falsche Weg, sein Leben in Balance zu bekommen, in dem man schneller wird. Die Kunst ist es, langsamer und achtsamer mit den Herausforderungen im Berufsleben umzugehen, und sich zusätzlich die individuellen «Inseln» zu suchen, um sich zu entspannen und wieder Freude zu erleben.

    Was gefällt Ihnen an Ihrem Job respektive der Psychiatrie?
    Es ist ein interessanter Beruf, der zwar oft auch traurige und tragische Aspekte beinhaltet, der aber auch Freude bereiten kann und immer wieder neue Herausforderungen mit sich bringt. Jede Patientin bzw. jeder Patient ist einzigartig. Das macht die Arbeit immer wieder interessant und abwechslungsreich. Mein persönliches Interesse gilt der klinischen Versorgung, wie man die Qualität der Behandlung immer weiter verbessern kann, sowie der klinischen Forschung und wie man neue innovative Therapiemethoden entwickelt und im klinischen Alltag anwendet. Ich kann mir persönlich keinen anderen Beruf vorstellen.

    Sie gelten als Experte für Narzissmus. Was zeichnet solche Menschen aus und wieso fallen sie gerade in der heutigen Zeit besonders auf?
    Narzissmus ist ein komplexes Gebiet, das von leicht pathologischem Narzissmus bis hin zur narzisstischen und antisozialen Persönlichkeitsstörung reicht. Auch hier ist anzumerken, dass es dieses Verhalten schon früher gab – die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist genauso häufig wie früher anzutreffen, nur wird der Narzissmus heutzutage durch Social Media begünstigt und in einigen Fällen auch verstärkt. Narzissten neigen aufgrund ihrer Persönlichkeit grundsätzlich dazu, auf sich aufmerksam machen zu wollen, und wollen auch sicherstellen, dass ihre Leistungen bewundert werden. Dazu kommt, dass in unruhigen Zeiten schwere narzisstische Pathologien vermehrt gesucht werden, z.B. als Politiker, weil sie Stärke und Kontrolle ausstrahlen und versprechen. Das wird leider mit vermeintlicher Sicherheit verwechselt und macht narzisstische Leader erst erfolgreich.

    Wie begegnet man einem Egomanen auf der Chefetage?
    Prof. Dr. med. Marc Walter: Wenn der Egomane psychopathische Züge hat, sollte man erwägen, den Job zu wechseln. Bei leichteren Fällen könnte man versuchen, seinen Kommunikationsstil anzupassen, also keine direkte Kritik zu äussern oder Negatives mit Positivem zu verbinden. Für Narzissten sind Lob und Bewunderung nämlich wie Nahrung. Narzissten zu ändern ist jedoch durch einen spezifischen Umgang allein leider nicht möglich. Eine Veränderung der narzisstischen Pathologie ist nur durch eine erfolgreiche Psychotherapie möglich.

    Interview: Corinne Remund


    Die PDAG

    Die Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) gewährleisten die psychiatrische Behandlung und Betreuung mit Notfalldienst und Krisenintervention für die Kantonsbevölkerung. Massgeschneiderte stationäre und ambulante sowie konsiliarische Angebote bestimmen die Behandlungen, die individuell zu Betroffenen, ihrer Krankheit und Lebenssituation passen.

    Seit 2004 sind die PDAG eine Aktiengesellschaft im Eigentum des Kantons Aargau. Für die PDAG arbeiten über 1’700 Personen in über 50 Berufen. Die PDAG sind Lehrspital der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich und Ausbildungsstätte für Berufe im Gesundheitswesen. Als eine der grössten Psychiatrien der Schweiz engagieren sich die Psychiatrischen Dienste Aargau AG (PDAG) auch im Bereich der Aus- und Weiterbildung. So sind sie seit 2011 Lehrspital der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Der Leiter und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Marc Walter, ist zugleich Titularprofessor für Psychiatrie und Psychotherapie. Die PDAG haben 2023 über 28’000 Patientinnen und Patienten behandelt, davon fanden dreiviertel der Behandlungen im ambulanten Setting statt. Trotz Teuerungsdruck bei stagnierenden Tarifen sind die PDAG finanziell gesund und investieren in ihre Infrastruktur. Derzeit wird zum Beispiel am Hauptstandort in Windisch der Versorgungstrakt mit Küche saniert sowie das historische Hauptgebäude auf einen aktuellen technischen Stand gebracht. Darüber hinaus wurde mit der Umsetzung eines nachhaltigeren Energieversorgungskonzepts begonnen.

    Von Arbeitgeberseite wird von den PDAG sehr viel unternommen, um attraktive Arbeitsbedingungen anbieten zu können. Die interprofessionelle Zusammenarbeit, also das Zusammenarbeiten über verschiedene Bereiche, Berufsgruppen und Hierarchieebenen hinweg, gewinnt dabei immer mehr an Bedeutung.

    www.pdag.ch

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